Veranstaltung: | ordentlicher Landesparteitag der SPD Sachsen 2021 |
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Tagesordnungspunkt: | 8. Antragsberatung |
Antragsteller*in: | SPD-Landesparteitag |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 10/11/2021, 16:51 |
Ersetzt: | I02: Mehr Demokratie wagen - Neue Formen der Partizipation als Antwort auf mangelndes Vertrauen in die repräsentative Demokratie |
Beschluss I02NEU: Mehr Demokratie wagen - Neue Formen der Partizipation als Antwort auf mangelndes Vertrauen in die repräsentative Demokratie
Antragstext
Die sächsische SPD fordert den Parteivorstand auf, im Rahmen der Verhandlungen
über einen Koalitionsvertrag auf Bundesebene die Stärkung der demokratischen
Willensbildung zu konkreten gesetzgeberischen Vorhaben vorzusehen. Insbesondere
soll die Möglichkeit geschaffen werden, konkrete gesetzgeberische Vorhaben in
Form eines Volksantrages von Bürger:innen in den Bundestag einzubringen, über
den der Bundestag nach Diskussion in Plenum und Ausschüssen abschließend
entscheidet.
Auf Bundesebene und in den Bundesländern sollen die gesetzlichen Voraussetzungen
geschaffen werden, dass Bürger:innen ihre Mitwirkung an der Gesetz- und
Satzungsgebung in Planungszellen und Bürger:innenräten einfordern können. Das
System der Gesetzgebung und der kommunalen Satzungsgebung soll so ergänzt
werden, dass für geeignete Problemstellungen Bürger:innen beanspruchen können,
dass Planungszellen oder andere Bürger:innenräte in die Entwicklung der zur
regelnden Materie eingebunden werden und dem Gesetz- oder Satzungsgeber
Vorschläge unterbreiten können, welche Regelung oder Entscheidung zur Erreichung
eines Ziels getroffen werden sollte. Bürge:rinnen müssen in Gesetzgebung und
Planung genauso frühzeitig eingebunden werden wie die Vertretungen von
Interessengruppen und Lobby-Verbänden, um ihre Beteiligungsrechte
gleichberechtigt wahrnehmen zu können.
Dabei sollten die Ergebnisse des Leipziger Bürgerrats Demokratie 2019, die
Erfahrungen des Wuppertaler Modells von Planungszellen sowie weitere
Beteiligungsformen geprüft werden.
Begründung
Seit Jahren ist eine Tendenz zu erkennen, dass sich viele Bürger:innen immer stärker entfremdet sehen von den Personen, die von ihnen in Gemeinderäte, Stadträte und Kreistage, in die Landtage oder den Bundestag gewählt wurden. Viele verstehen die Relevanz der Entscheidungen nicht, die für sie als „das Volk“ getroffen werden, oder empfinden getroffenen Entscheidungen als gegen sie oder ihre Interessen gerichtet. Das Resultat ist eine mangelnde Beteiligung an Wahlen und fehlendes Verständnis für den Abwägungsprozess sowie den Interessenausgleich beim Gang der Gesetzgebung. Auch wenn der aktuelle Bundestagswahlkampf einen Aufbruch in eine neue Koalitionsoption verspricht, spannend geführt wird und deshalb eine hohe Wahlbeteiligung erhofft werden kann, ist der Eindruck weit verbreitet, man könne ja doch nichts ändern.
Der Verfassungsgeber hat in Sachsen deshalb vorgesehen, dass sich Bürger:innen mit eigenen gesetzgeberischen Anliegen im Wege des Volksantrags an den Landtag wenden können, der diesen Antrag wie einen Antrag der Staatsregierung oder einen Antrag aus der Mitte des Landtags behandeln muss. Damit erlangen sie, wenn sie genügend Unterstützung haben, einen Status ähnlich dem parlamentarischen Gesetzgeber, können aber im Landtag nicht über den Antrag entscheiden. Dafür können sie, wenn der Landtag dem Antrag nicht zustimmt oder innerhalb von 6 Monaten nicht entscheidet, ein Volksbegehren durchführen, das im Erfolgsfall zu einem Volksentscheid führt. Damit ist das Volk des Freistaates Sachsen gleichberechtigter Gesetzgeber neben dem Landtag; dies hat der Sächsische Verfassungsgerichtshof inzwischen mehrfach bestätigt.
Für die Bundesebene ist die Einführung von Elementen direkter Demokratie nicht unumstritten. In der SPD gibt es eine klare Beschlusslage, die das befürwortet. Die Bundestagsfraktion hat im Jahr 2013 einen Antrag in den Bundestag eingebracht, der dies konkret regelt. Angesichts gelegentlich negativer Erfahrungen in einigen Bundesländern und im Ausland, wo Volksentscheide nicht die Ergebnisse brachten, die man politisch für „richtig“ hielt, weil mächtige Vertreter:innen von Individualinteressen mit großem finanziellem Einsatz Ergebnisse manipuliert zu haben schienen, ist die Beschlusslage der Partei erneut in die Diskussion gekommen.
Der Vorschlag, für die Bundesebene zunächst das Instrument des Volksantrages einzuführen, über den nur der Bundestag, nicht aber ein Volkentscheid am Ende befindet, verbindet die emanzipatorische Idee, das Volk an Gestaltung und Verantwortung von Politik zu beteiligen und es darüber zu interessieren mit der Vermeidung von Möglichkeiten, Volksabstimmungen populistisch zu manipulieren.
Zugleich streben die Einreicher:innen in Ergänzung dieses Systems mit diesem Antrag an, Bürger:innen in geeigneten Bereichen bereits im Vorfeld eines neuen Gesetzes oder einer neuen Satzung so zu beteiligen, dass das Ziel der Regelung erkannt und bewertet werden kann und, dass die Beteiligten unter professioneller Beratung selbst konkrete Empfehlungen abgeben können, wie die so definierten Ziele zu erreichen sind. Es gibt u.a. im Baurecht, im Umweltrecht und im Planungsrecht sowie in vielen kommunalen Satzungen bereits Ansätze für derartige Formen der Beteiligung, die jedoch meist nicht oder zu spät wahrgenommen werden. Das kann am mangelnden Interesse der Bevölkerung liegen, aber auch daran, dass Veröffentlichungen so erfolgen, dass sie möglichst unbemerkt bleiben. Hier wäre zu regeln, wie so viel Öffentlichkeit für solche Vorhaben geschaffen wird, dass sich das Interesse und potentieller Widerstand nicht erst dann rührt, wenn im baurechtlichen Sinne „der Bagger rollt“.
In anderen Bereichen, insbesondere bei der Gesetzgebung, gibt es bisher die Anhörung von Verbänden, nicht aber die aktive Einbindung und Beteiligung potentiell betroffener Bürger:innen. Denjenigen, die meist den Eindruck haben, dass Gesetzgebung durch die Lobby mächtiger Interessenvertretungen maßgeblich beeinflusst wird, sollten selbst genauso frühzeitig Gesetzgebungsabsichten bekannt werden, damit sie die Möglichkeit haben, in strukturierter Form an der Gesetzgebung mitzuwirken. Beiräte und ähnliche Gremien können die Funktion übernehmen, Adressaten der Gesetzgeber schon in der Anhörung zu sein und die Interessen von Bürger:innen aus deren Perspektive zu artikulieren. Damit würde auch in dem Bereich, wo bereits vor der eigentlichen Gesetzgebung durch das Parlament Interessen abgeglichen und berücksichtigt werden, eine wichtige Lücke in der Beteiligung von Bürger:innen geschlossen.
In unserem Zukunftsprogramm haben wir als SPD dazu formuliert:
„Wir werden die Erfahrungen mit Bürgerräten aufgreifen und es uns zur Aufgabe machen, neue Wege der unmittelbaren Beteiligung an staatlichen Entscheidungen zu gehen. Durch eine systematische und frühzeitige Beteiligung der Bürger*innen an staatlichen Projekten können Rechtswege verkürzt und Verfahren beschleunigt werden.“ (Ziff. 2.8., S. 25)
Begründung der Dringlichkeit des Initiativantrags:
Die SPD hat bei der Bundestagswahl ein herausragendes Ergebnis erzielt und wird in Koalitionsverhandlungen eintreten, die im Erfolgsfall zu einer Bundesregierung unter Führung von Bundeskanzler Olaf Scholz führen werden. Es ist Beschlusslage der SPD in Sachsen, dass auf der Bundesebene Instrumente direkter Demokratie mit Volksantrag, Volksbegehren und Volksentscheid eingeführt werden.
Allerdings hat diese klare Aussage nicht Eingang in das Wahlprogramm, das Zukunfts-Programm gefunden. Die potentiellen Koalitionspartner sehen direkte Demokratie eher skeptisch; die Grünen haben sich mit knapper Mehrheit 2020 davon vollständig verabschiedet, die FDP wollte das noch nie. Mit unserem Antrag wollen wir die Möglichkeit eröffnen, mit einem Gesetzesinitiativrecht einen ersten Schritt in die Richtung von Beteiligung der Bürger:innen an der Gesetzgebung zu gehen, ohne dass der parlamentarische Gesetzgeber Angst haben muss, das Volk werde vor einem Volksentscheid, der ja nicht vorgesehen ist, von mächtigen Interessengruppen unangemessen manipuliert.
Dieses Ziel können wir nur befördern, wenn es auf unserem Parteitag beschlossen und für die Verhandler:innen an den Parteivorstand, zur Meinungsbildung darüber hinaus an den Bundesparteitag gerichtet wird.