Veranstaltung: | Landesparteitag der SPD Sachsen 2021 |
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Tagesordnungspunkt: | 8.6. Gleichstellung - Diversität - Integration |
Status: | Beschluss |
Abstimmungsergebnis: | Einstimmig angenommen. Ungültig: -3 |
Beschluss durch: | Landesparteitag |
Basierend auf: | G08NEU: Intersektional denken, forschen und handeln: Die Datenlücke schließen! |
Intersektional denken, forschen und handeln: Die Datenlücke schließen!
Beschlusstext
Wissenschaft und Forschung werden immer noch viel zu oft von weißen Männern und
über weiße Männer gemacht. Die damit verbundenen Denkmuster und
wissenschaftlichen Prozesse sind allerdings systemimmanent und scheinen stabil
in den Köpfen der Wissenschaftstreibenden verankert, andere Perspektiven werden
nicht einbezogen. Dieses Ergebnis jahrhundertealter rassistischer, patriarchaler
Strukturen ist nicht nur ungerecht und benachteiligt Frauen, BIPoC (Black,
Indigenous and People of Color) und andere marginalisierte Gruppen, es kann
sogar lebensgefährlich für sie sein.Wissenschaft wirkt in die Gesellschaft und
andersherum. Insbesondere bei Frauenforschung und der Erforschung von BPoC-
Themen soll es nicht nur darum gehen, die Wissenschaft um die jeweiligen
Themengebiete zu ergänzen, Forschungslücken aufzudecken und zu schließen,
sondern diese auch stets gesellschaftskritisch in die Hochschulen und somit in
die Gesellschaft zu tragen.
Es gibt einfach keine Daten zu Frauen, BIPoC und anderen marginalisierten
Gruppen und ihren Erfahrungen zu vielen essentiell wichtigen Bereichen – wie
z.B. der Wirksamkeit von Medikamenten. Wissenschaftler:innen nennen dieses
Problem The Data Gap. Dieses Problem ist dringlich und kann nur grundlegend
gelöst werden, indem wir strukturelle Gleichstellung erreichen. Einige
Maßnahmen können und sollten jedoch auch kurzfristig und gezielt eingesetzt
werden. Im folgenden möchten wir dazu einige Teilbereiche genauer betrachten.
Wissenschaft, Forschung und gravierende
medizinische Folgen
Medizinische Studien aus verschiedensten Bereichen wurden und werden oft nur an
jungen, weißen Männern durchgeführt. Einige Pharmakonzerne begründen den
Fokus auf männliche Personen damit, dass der weibliche Zyklus zu variabel sei,
um finanziell tragbar eine Studienteilnahme zum richtigen Zykluszeitpunkt
sicherzustellen. Allerdings haben die Frauen, die die zugelassen Medikamente
nehmen, auch einen Zyklus. Das Ergebnis sind unerwartete Nebenwirkungen. Durch
die Auslegung der Dosierungen auf Männer können Frauen sich nicht sicher sein,
ob die Angaben der Verpackungsbeilage so auch für sie zutreffen – und im
schlimmsten Fall hat das Medikament gar nicht die Wirkung, die es haben soll.
Das Gleiche betrifft auch BIPoC.
Ähnliches zeigt sich auch für Forschung aus anderen Bereichen - so wurde
psychologische und neurowissenschaftliche Forschung lange sehr männlich- und
weiß-zentrisch durchgeführt. Dadurch werden die unterschiedlichen Erfahrungen
marginalisierter Gruppen nicht abgebildet und finden wenig bis keine Beachtung.
Ein markantes Beispiel ist auch, dass überproportional an Krankheiten geforscht
wird, die Männer betreffen. Über den weiblichen Zyklus oder Erkrankungen die
Menstruierende betreffen, wie z.B. Endometriose, wissen wir jedoch sehr wenig,
weil die Forschung dazu fehlt und es auch schwierig ist, Gelder für diese
Themen einzuwerben. Ein Beispiel dafür, dass der Fokus auf männliche
Krankheitsperspektiven tödlich sein kann, ist der Herzinfarkt. Während Männer
ihre Symptome „klassisch, wie aus dem Lehrbuch“ berichten, schildern Frauen
Symptome schon rein sprachlich anders, benutzen andere Vergleiche („Das ist
wie Menstruationsschmerzen in der Brust“) und werden dadurch
überdurchschnittlich häufig fehldiagnostiziert. Ein verkannter Herzinfarkt
kann tödlich sein.
Beispiele wie diese gibt es viele.
Wir fordern, dass Forschung paritätisch und intersektional stattfindet und
dafür explizit gefördert wird. Medikamente müssen ausreichend an allen
Geschlechtern getestet werden, bevor sie zugelassen werden dürfen.
Erkrankungen, die Menstruierende betreffen, müssen beforscht werden.
Algorithmen und Optimierungsprozesse
Algorithmen vereinfachen bereits jetzt viele Bereiche des Lebens, ihr Einsatz
wird sich in Zukunft verstärken. Algorithmen werden unter anderem genutzt, um
Entscheidungen und Vorhersagen zu treffen. Gleichzeitig sind diese
Entscheidungen und Vorhersagen davon abhängig, welche Datengrundlage der
Algorithmus zur Verfügung gestellt bekommt. Die Daten, die zur Verfügung
stehe, sind oft weiß und männlich dominiert. Das hat auf der einen Seite
triviale Folgen, wie zum Beispiel, dass Spracherkennung oft männliche Stimmen
besser erkennt als weibliche. Räume werden so klimatisiert, dass sie angenehmer
für Männer sind, als für Frauen. Der automatische Fokus eines iPhones
funktioniert nur für weiße, nicht aber für Schwarze Gesichter.
Jedoch betrifft das auf der anderen Seite auch alle anderen Bereiche, in denen
Algorithmen für Optimierungsprozesse eingesetzt werden, zum Beispiel die
Berechnung von privaten Krankenkassenbeiträgen, bei denen BIPoC und Frauen oft
benachteiligt werden weil Algorithmen aufgrund ihrer programmierten Classifier
einen Gender oder Race bias haben. Oder die Identifizierung von Risikogruppen
für Herzinfarkte: Wenn der Algorithmus keine Daten über Frauen und BIPoC hat,
und diese andere Risikofaktoren haben als weiße Männer, wird der Algorithmus
sie nicht identifizieren.
Wir fordern, dass bei öffentlichen Aufträgen Vorgaben zur Vermeidung solcher
Verzerrungen und Fehlkalkulationen festgelegt werden. Algorithmen dürfen
diskriminierende Strukturen nicht verstärken.
Sicherheit im Verkehr
Ein weiteres lebenswichtiges Thema ist Verkehrssicherheit. Oft werden Crashtests
nur mit Dummies durchgeführt, die einem durchschnittlichen Männerkörper
nachgebildet sind. Dummies, die einem durchschnittlichen Frauenkörper
nachgebildet sind, sind dagegen selten in Benutzung. Wenn sie genutzt werden,
dann oft nur auf dem Beifahrer:innensitz. Das hat zur Folge, dass Autos für
Männer sicherer und anwendungsfreundlicher sind als für Frauen.
Daher fordern wir, dass Autohersteller verpflichtet werden, gleichermaßen
Sicherheitsstandard für alle Geschlechter und demnach für alle Körpertypen
herzustellen. Diese Sicherheit muss natürlich auch für Busse, Bahnen,
Flugzeuge oder sonstige Fortbewegungsmittel gelten.
Vieles wissen wir noch nicht – Forschung zum Data Gap fördern!
Es existieren viele weitere Beispiele und dieser Antrag erhebt keinen Anspruch
auf Vollständigkeit. Um diese Ungerechtigkeiten aufzudecken ist Forschung
notwendig.
Daher fordern wir, dass der Bund und das Land Forschung auf dem Gebiet des Data
Gap gezielt fördern:
Wir brauchen Forschungsprogramme zu intersektionalen Perspektiven in allen
Bereichen der Wissenschaft und Industrie.
Wir fordern im Anschluss daran die gezielte Förderung von Menschen in der
Wissenschaft, die diese intersektionalen Perspektiven mitbringen weil sie
einer marginalisierten Gruppe angehören.
Wir fordern spezifische Förderprogramme für Forschung, die sich das Ziel
setzt, den Datenrückstand bei marginalisierten Gruppen zu beseitigen. Das
betrifft beispielsweise Forschung zu Menstruation und Erkrankungen die
Menstruierende betreffen.
Wir fordern ebenso eine Reform des Arzneimittelgesetzes dahingehend, dass
in Zulassungsstudien von Medikamenten die Stichproben repräsentativ für
unsere Gesellschaft sein müssen.
Um die Denkmuster zu durchbrechen, müssen intersektionale Themen und
Aspekte in Schule, Hochschule und Ausbildung gezielt eingeführt werden.