Veranstaltung: | Landesparteitag der SPD Sachsen 2021 |
---|---|
Tagesordnungspunkt: | 8.8. Demokratie - Europa - Welt |
Antragsteller*in: | SPD-Landesparteitag |
Status: | Überweisung (ASJ Sachsen) |
Verfahrensvorschlag: | Weiterleiten an: ASJ Sachsen |
Eingereicht: | 09/23/2021, 17:02 |
Ersetzt: | D01: Mehr Demokratie wagen – Partizipation als Antwort auf die Repräsentations-Krise |
Beschluss D01: Mehr Demokratie wagen – Partizipation als Antwort auf die Repräsentations-Krise
Antragstext
Der Unterbezirk Bautzen/Budyšin bittet den SPD-Landesparteitag sowie die SPD-
Verantwortungsträger in der sächsischen Landesregierung und im sächsischen
Landtag, sich dafür einzusetzen, in Sachsen eine starke Säule der direkten
Demokratie neben der Säule der repräsentative Demokratie aufzubauen. Neben den
im Koalitionsvertrag genannten, jedoch nur Ja/Nein-Entscheidungen
ermöglichenden, Volksabstimmungen sollen insbesondere konsensierungsbefähigte
Bürger*innenräte befördert werden.
Begründung
Der sächsische Koalitionsvertrag zwischen SPD, CDU und B90/GRÜNE sieht im
Kapitel "Demokratie / Bürgerbeteiligung" die Herabsetzung der Hürden für
Volksanträge, Volksbegehren und Volkentscheide vor. Das ist sehr begrüßenswert.
Dem Titel des Koalitionsvertrages "... Neues ermöglichen, Menschen verbinden"
folgend sollte aber auch eine bei uns tatsächlich neue, und dabei gleichzeitig
die Menschen tatsächlich verbindende Art der direkten Demokratie, die
sogenannten Bürger*innenräte, gefördert werden.
Während bei Volksabstimmungen das Volk letztlich nur mit Ja oder Nein antworten
und damit in ungünstigen Fällen die Spaltung der Gesellschaft sogar verschärfen
kann (siehe Brexit), bieten Bürger*innenräte die Chance auf eine nachhaltig
wirksam werdende Konsensentscheidung. Die Schwarmintelligenz der breiten
Bevölkerung wird, völlig frei von parteilichen und anderen Abhängigkeiten und
Profilierungszwängen, zur Erarbeitung von partei-, generations- und
standesübergreifend Lösungen genutzt. Die Räte bieten, wenn in hoher Qualität
und Quantität durchgeführt, der breiten Bevölkerung ohne Ausschluss von bisher
unterrepräsentierten Gruppen eine bisher in der Bundesrepublik völlig neue
politische Gestaltungs- und Selbstwirksamkeitserfahrung für Jedermann. Dies
birgt große Chancen im Kampf gegen Politikverdrossenheit. Die in
Bürger*innenräten liegenden Potential wurden bereits auch in einigen Beispielen
erfolgreich gezeigt.
Die repräsentative Demokratie wurde vor über 200 Jahren statt der direkten
Demokratie eingeführt, um das Volk durch eine Wahl-Aristokratie einzuhegen und
vor sich selbst zu schützen. In der Zwischenzeit ist jedoch viel passiert: Die
Demokratie stellt sich selbst in Frage. Gleichzeitig befinden sich
Bildungsniveau und Zugang zu Informationen für die breite Bevölkerung auf einem
bisher nie erreichten Level. Bei der Bestimmung der Repräsentanten wurden große
Fortschritte gemacht. Frauen wird das aktive und passive Wahlrecht zugestanden,
was zuvor undenkbar war.
Den direkten politischen Entscheidungen stehen jedoch weiterhin 99,9 % der
Bevölkerung fern, sie erhalten lediglich “aller Jahre wieder” die Möglichkeit,
analphabetengleich ein Kreuzchen zu setzen und Parteien anhand einiger Kriterien
einen Freifahrtschein für die kommende Regierungsperiode zu geben.
Für eine Partei, wichtigster Profiteur der repräsentativen Demokratie, bedeuten
Bürger*innenräte eine teilweise Abgabe von Macht. Das erfordert Mut und
Selbstlosigkeit von der SPD. Aber es lohnt sich!
---------------------
1.) Bürger*innenräte meint hier per Los aus der Gesamtbevölkerung besetzte
Gremien, welche z.B. je zu einem Vorhaben/Projekt unter Einbindung breiter
Ideenpools und Experten- und Betroffenenanhörungen Lösungen und Entscheidungen
entwickeln. Professionelle Großgruppenmoderationen (z.B. Verhinderung von
Meinungsführerschaften, systemisches Konsensieren), Wertschätzung der Teilnehmer
(u.a. durch Sitzungsgeld, Lohnausfallentschädigung, Kinderbetreuung, Catering
etc.) sowie die Zusicherung des Entscheidungsmandates an die Räte sind wichtige
Voraussetzungen für den Erfolg.
2. )
David Van Reybrouck, 2015 “Gegen Wahlen: Warum Abstimmen nicht demokratisch
ist”; bringt u.a. Beispiele aus der Bewältigung einer irischen Verfassungskrise;
in Frankreich erarbeitet ein Bürgerrat Maßnahmen zum Klimaschutz, Das Parlament
der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Ostbelgien beruft Bürgerversammlungen und
Bürgerräte mit starken Kompetenzen, u.v.m.
3.)
Rancière 2011, S. 80 “Dass man die Demokratie völlig selbstverständlich mit
einer gewählten, repräsentativen Regierungsform gleichsetzt, ist dagegen ein
historisch noch sehr junges Phänomen. Ihrem Ursprung nach ist die Repräsentation
eigentlich das genaue Gegenteil von Demokratie. Zu Zeiten der amerikanischen und
französischen Revolution ist dies auch jedermann bekannt. Und die Gründungsväter
sowie viele ihrer französischen Nacheiferer sehen darin das rechte Mittel für
die Elite, die Macht, die sie dem Volk zuerkennen müssen - die das Volk jedoch
nicht ausüben könnte, ohne das Regierungsprinzip selbst zu zerrütten -, de facto
im Namen des Volkes auszuüben. {...} Heute mag die “repräsentative Demokratie”
wie ein Pleonasmus ((= rhetorische Figur durch Wortreichtum ohne
Informationsgewinn) anmuten. Aber zuerst war sie ein Oxymoron (= rhetorische
Figur aus zwei gegensätzlichen, einander widersprechenden oder sich
ausschließenden Begriffen).
4.)
Philip Manow, 2020: (Ent-)Demokratisierung der Demokratie, S. 13 “(Die These)
... von der Demokratisierung der Demokratie, lautet, dass wir es zunächst
eigentlich mit einer Krise der Repräsentation, nicht aber mit einer Krise der
Demokratie zu tun haben. Ganz im Gegenteil: Die Krise der Repräsentation sollte
als eine Konsequenz der massiven Ausweitung politischer Partizipationschancen
verstanden werden, die wir momentan erleben. Die Demokratie ist also
»demokratischer« geworden, sie hat sich demokratisiert.”